Um 11.15 Uhr begannen wir bei 3900m den etwas mehr als dreistündigen Aufstieg zu der Schutzhütte „Refugio Nuevos Horizontes“, auf der wir die Nacht verbringen wollten, um am nächsten Tag zum Gipfel des Iliniza Norte zu gehen. Durch schöne und grüne Vegetation führte uns der Weg die ersten zwei Stunden, bis wir durch dichten Nebel und anfangs Nieselregen, dann Hagel zu einem ungemütlichen und steilen Bergrücken aus Schotter kamen. Der Hagel entwickelte sich zu einem dichten Regen und nach einigen Höhenmetern mehr zu Schneefall. Jö, Schnee! Zum ersten Mal erlebte ich Schneien hier in Ecuador! Doch mein Entzücken war nur von kurzer Dauer. GoreTex hielt nicht das, was es verspricht, ebensowenig das wasserabweisende Material meines Rucksacks. Meine Baumwollhose war innerhalb von Minuten durchnässt und meine Finger waren klamm von der Kälte. (Das nächste, was ich mir in Otavalo kaufe, sind ordentliche und warme Alpaca-Fäustlinge; schwor ich mir und verfluchte meine fingerfreien Ein-Dollar-Kunstfaser-Halbhandschuhe.) Der Schnee kam mittlerweile senkrecht daher, wir marschierten erschöpft und langsam, da man auch die Höhe schon zu spüren bekam. Es war mir, als hätte ich Asthma, ich musste manchmal einfach innehalten und tief einatmen, da ich ein Gefühl von Überanstrengung oder Ersticken fühlte. Wir waren alle vier schon ziemlich am Limit, als sich endlich das rettende Dach der Schutzhütte aus dem Nebel löste. Überglücklich taten wir die letzten Schritte, unsere Beine schienen wie von selbst zu gehen und wir traten ein. Bei der auf 4700m gelegenen Hütte handelte es sich um einen provisorischen, ungeheizten, feuchten und sehr kalten Verschlag. Wir waren zwar alleine, aber unsere Vorgänger hatten deutliche Spuren hinterlassen; im gesamten Küchenbereich standen unabgewaschene Teller, Häferl und Essensreste herum. Wir richteten uns ein, zogen unser nasses Gewand aus (schwerer Fehler!), aßen Brot und viel Thunfisch, suchten aus den umstehenden Stockbetten Plätze für uns aus, breiteten unsere Schlafsäcke aus und krochen hinein, in der Hoffnung auf ein bisschen Wärme. Die Wände schimmelten grün und die Matratzen waren feucht. Trotz Hose, Fliespulli, Schlafsack und Decke wich die Kälte nicht von mir. Meine Finger waren so klamm, dass ich sie beinahe nicht mehr bewegen konnte und zum Öffnen der Plastikschnallen meines Rucksacks jeweils zwei Hände verwenden musste! Kurz schlief ich ein, die Erschöpfung wiegte über, doch um 16.00 Uhr waren wir alle wieder wach und beratschlagten uns. Die Kälte war unerträglich, wir zogen in Erwägung, noch am selben Tag den Abstieg zu wagen. Doch da wir nicht in der Dunkelheit und zu Fuß bis zum Dorf El Chaupi wandern wollten, blieben wir. Noch nie in meinem Leben war mir so kalt! Und noch nie in meinem Leben habe ich 10 Dollar für so eine miese Absteige bezahlt!
Wir machten wirklich das Beste aus unserem Aufenthalt im Refugio, wärmten Tee und begannen aus Langeweile alles zu kochen, was sich an Essbarem fand. Einige Wanderer hatten schon Lebensmittel dagelassen und auch wir hatten eine Menge mitgenommen. Wir aßen Schokolade, Kokosett, Bananen, Äpfel, Schokopudding, Streichwurst, Hühnersuppe mit Nudeln, Popcorn und dann wieder Schokolade. Dazu tranken wir Unmengen an Tee, die erste Tasse dank Flo sogar mit Rum, sodass wir jede Weile das sehr kalte Klo draußen aufsuchen mussten. Wir scherzten, sangen und lachten. Als es dunkel wurde, schlüpften wir wieder in die Schlafsäcke, die mittlerweile auch kalt und feucht waren.
Um 22.00 Uhr in der Nacht tauchten plötzlich vier Wanderer auf, die uns um 4.00 Uhr wieder verließen, um den technisch um einiges schwierigeren Iliniza Sur zu besteigen. Die Jungs wirkten um einiges professioneller als wir und waren auch im Besitz besserer Ausrüstung. Draußen lag noch immer Schnee, wir vier hatten bald beschlossen, dass wir den Gipfelsturm am nächsten Tag nicht wagen würden.
Sobald es hell wurde, standen wir auf und wärmten wieder Wasser. Unser Gewand war nicht getrocknet, im Gegenteil, und das am Vortag noch trockene hatte ebenfalls die Nässe und Kälte von der Umgebung angezogen. Einzig die Kleidung, die wir die ganze Nacht am Körper getragen haben, war trocken. Nach dem Frühstück packten wir unsere Sachen zusammen und begannen den eineinhalbstündigen Abstieg.
Um 13.00 Uhr kamen wir wieder in Ambato an. Mir war zwar nicht mehr kalt, aber ich habe die warme Dusche im stillen Gedenken an die Nacht davor, ehrfürchtig genossen. Das klassische Gipfelerlebnis fehlte uns zwar diesmal, aber trotzdem hatten wir genug an Extremsituationen und Grenzen gespürt.