Post vom 6.Dezember 2007
Der Nikolaus hat mich wirklich auch hier in Kaunas gefunden. Unglaublich. :) Als ich heute um sieben Uhr aufgestanden bin, waren beide Schuhe (obwohl nicht geputzt noch dazu!) voller litauischer Schokolade und Keksen. Hui, so fängt der Tag natürlich gut an. Auch wenn ich vermute, dass "mein" österreichischer Nikolaus diesmal in Person meiner belgischen Mitbewohnerin Sigrid gekommen ist. :)
So viele von Euch schreiben in Briefen und Mails, dass Sie sich mein Leben hier nur so schwer vorstellen können, nicht wissen, womit ich wirklich meine Zeit verbringe und so weiter. Das will ich hiermit mal ändern. :)
7 Uhr: Mehr oder weniger verschlafen (je nachdem, wie lange ich am Vortag unterwegs war) krieche ich als erstes aus dem Sofabett, packe meine Sachen für die Arbeit, kurzes Frühstück und Blick aus dem Fenster über das dunkle und graue Kaunas.
8 Uhr: Im Trolleybus (leider nur selten in den grünen, neuen Bussen, die beheizt sind) fahre ich durch das morgendliche Kaunas und den Frühverkehr nach Vilijampolë. Die Busse kommen nie nach Fahrplan, also stehe ich jeden Tag zu einer anderen Zeit an der Haltestelle (und bin trotzdem fast nie zu spät gekommen. Irgendwann heißt es dann "Kita stotëlë: Prieplauka gatve", ich öffne meine Augen und steige aus.
10 Uhr: Die Kinder mampfen Bananen und Kekse, nach der freien Spielzeit. Ich mampfe mit. Montags und mittwochs mit nassen Haaren, da wir (mein italienischer Volunteerskollege Giuliano und ich) an diesen zwei Tagen mit zwei Kindern ins hauseigene Schwimmbecken gehen und Kinder natürlich spritzen und plantschen und ich im Endeffekt immer von Kopf bis Fuß nass bin. Aber spaßig ist es.
11 Uhr: Wenn ich Glück habe, gehen wir mit den Kindern spazieren. Wenn ich doppeltes Glück habe, kommt "mein" Kind Kornelijus nicht auf die Idee, tot zu spielen und sich in einer Pfütze fallen zu lassen und mein "Einam" bzw. "Ateik èia" schlichtweg zu ignorieren. (Doppeltes Glück hab ich allerdings selten...)
Das ist Vilijampolë: die Strassen sind kaum oder schlecht asphaltiert, bei Regen schwimmt alles und wir fahren mit dem Kinderwagen Slalom, wirklich in jedem "Vorgarten" wird ein knurrender Schäferhund verrückt, wenn wir vorbeigehen (ist es hier so gefährlich, dass alle Hunde haben?), manche Häuser ähneln eher Bretterbuden, ausgebrannte Autowracks, Häuser ohne Fensterglas, Müll und alte Autoreifen sind zu sehen.
Wenn ich Pech habe, laufen wir um diese Zeit mit zehn Kleinkindern an der Hand durch eines der Einkaufszentren in Kaunas, schauen die Hundebabys in den Glasboxen in der Tierhandlung an (ich konnte anfangs nicht glauben, dass das hier erlaubt ist) oder fahren mit den Rolltreppen auf und ab und auf und ab.
12.45: Die Herausforderung des Vormittages - die Kinder ins Bett zu bringen. Pyjama anziehen und dann "Ata" und "Viso gero". Puuh.
Nachmittags bin ich in der WG meist allein, da die beiden andren ganz andere Arbeitszeiten haben, doch ich finde immer etwas, was ich machen kann. Schlafen, viiiel schlafen (oft auch ungeplant *seufz*), Litauisch lernen, Briefe schreiben, mein Zimmer umräumen, einkaufen gehen, einfach durch Kaunas laufen, Mails tippen, lesen, essen.
Abends entweder Sprachkurs oder (offizielles) Treffen mit den anderen Volunteers meiner Hosting Organization, dann vielleicht ein Konzert, irgendeine Geburtstagsparty, Karaokenight, einfach gemütlich in einer andren WG sitzen und Tee trinken, gemeinsam plaudern und lachen oder auch mal zuhause bleiben und, und, und...
Soweit mein Tagesablauf, in etwa zumindest, denn Überraschungen gibt’s immer wieder. Heute zum Beispiel habe ich entdeckt, dass eine der "Educators" bei meiner Arbeit ziemlich gut Englisch spricht und ich so endlich mal ein kleines Gespräch beginnen konnte. Und dann haben wir eine geschlagene Stunde länger gearbeitet, denn so lange brauchten wir, um sage und schreibe acht (!) Weihnachtskugeln so aufzuhängen, dass Vida, die Gruppenleiterin zufrieden war. :)
Die Arbeit gefällt mir immer besser, auch wenn es sprachlich immer noch sehr, sehr schwierig ist. Nicht mit den Kindern, aber eben mit den Educators und da ich das System dort auch nicht richtig verstehe beziehungsweise vieles nicht gut finde. Außerdem möchte ich gerne selber auch was mit den Kindern machen und damit werde ich hoffentlich nach Weihnachten beginnen können.
Aber es ist einfach soooo schön, wenn ich in der Früh ankomme und sich mir 20 Kinderhände entgegenstrecken und "Labas" und "Mano, mano mama!" ("Meine Mama!") rufen. Und wenn ich Pferd spiele und die Kleinen gar nicht genug bekommen können, auf meinem Rücken durch den Gruppenraum zu reiten. Und wenn ich merke, dass die Kinder den Kontakt mit mir immer mehr suchen, sich auch von mir trösten lassen und nicht immer nur zu den anderen litauischen Educators kommen. Labai gerai ir puikiai! :)
Allgemein habe ich das Gefühl, dass ich auch immer mehr von der litauischen Kultur und Mentalitaet (und auch Sprache!) erfahre, ich tauche hinab und bin öfters ganz schön überrascht.
Oft habe ich das Gefühl, dass sich das Land auf einem schmalen Grat befindet; einerseits die Armut (wie in Vilijampolë), ein großes Alkoholproblem (schon vormittags sieht man immer wieder betrunkene Männer am Straßenrand liegen), ein problematischer Umgang mit der Geschichte und Vergangenheit ("To be honest, we hate Russians!", meinte kürzlich ein junger Litauer zu mir) und andererseits ist es ein EU-Land, soll in der näheren Zukunft den Euro bekommen, Städte wie Vilnius werden total nach vorne gepuscht und subventioniert (dafür bekommt Kaunas anscheinend kaum Geld). Das Land gibt sich sehr "westlich", in den Einkaufscenter finde ich besonders spürbar, dass viele Menschen einem (manchmal doch zweifelhaften) westlichen Vorbild nacheifern und das in vielen Aspekten (Kleidung, Werbung, Luxusgüter, Konsum im Allgemeinen).
Unglaublich spannend finde ich es, so langsam mehr und mehr zu entdecken, und mein Tauchgang in die litauische Kultur geht weiter und weiter...
Seid alle lieb gegrüßt, Eure Sarah.
PS. Bild: Am Sonntag Besuch des Neunten Forts in Kaunas; waehrend der NS-Zeit wurden hier Juden inhaftiert und schliesslich auf diesem Platz, wo heute das riesige Denkmal steht, zu Zehntausenden ermordet.
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